Klaus Wolandewitsch: Hochwasser in Ricklingen - ein Kindheitserlebnis

Das erste Weihnachtsfest nach dem Krieg war gerade mal 6 Wochen her. Ich besuchte die 2. Klasse der Volksschule 63 in der Nordfeldstraße als ein Ereignis eintrat, das mir bis heute in eindrucksvoller Erinnerung geblieben ist. Wir, d. h. meine Freunde aus der Höpfnerstraße und vom Stadtweg, hatten in den ersten Februartagen des Jahres 1946 natürlich schon mehrfach einen Blick auf die überschwemmten Maschwiesen hinter der Beekebrücke am Ende der Düsternstraße geworfen als mich mein Freund Heinzi am 8. Februar wieder zum " Gucken" abholte. Das Wasser hatte inzwischen die Beekebrücke vollkommen überschwemmt und stand etwa in der Mitte der Düsternstraße.

Wir stellten uns an den Rand des Wassers und schlossen für einige Sekunden die Augen. Nach dem Öffnen waren unsere Schuhe vom Wasser umspült. Als wir uns nach einigen weiteren Versuchen auf den Rückweg machten, bekamen wir einen leichten Schreck. Aus den Gullys blubberte Wasser und überschwemmte die Straßen. Zuhause angekommen, wir wohnten am Ricklinger Stadtweg 8 (heute Juwelier Schneider), fand meine Mutter mein spätes Erscheinen gar nicht lustig, denn sie war inzwischen mit anderen Hausbewohnern dabei, den Keller zu räumen und insbesondere das Eingemachte in unsere Wohnung in der dritten Etage zu schleppen.

Das Wasser stieg in den nächsten Stunden bis zur Höhe der Fensterbänke im Erdgeschoss. Die Mitbewohner aus dem Erdgeschoss wurden auf die oberen Wohnungen verteilt, bei uns die drei Söhne einer Familie von unten.

Für mich begannen einige schöne Tage mit tollen Kumpels. Keine Schule, Spiele in größerer Runde und selbst gebastelte Schiffchen konnten wir im Treppenhaus schwimmen lassen.
Außerdem bot sich uns ein abwechslungsreiches Programm beim Blick aus dem Fenster. Ein Anwohner aus der Höpfnerstraße versuchte einen Kleiderschrank, ein anderer eine Zinkbadewanne als Boot zu benutzen. Beide machten nach ca. 30 Metern Bekanntschaft mit der dreckigen, kalten Brühe und wir begleiteten die Vorgänger mit lautem Hallo. Die Engländer, die damals unsere Stadt verwalteten, kamen mit einem Motorboot den Stadtweg heraufgebraust und bogen rechts in die Beekestraße, heute Kreipeweg, Richtung Oberricklingen ab. Sie hatten offenbar nicht gewusst, dass Oberricklingen wesentlich höher liegt als Ricklingen und schon saßen die Tommys auf Grund. Interessant wie lange Zeit die Engländer benötigten, ihre Kameraden wieder flott zu machen.

Für meine Mutter müssen diese Tage die Hölle gewesen sein. Die Wohnung total überbelegt, der Ehemann wegen des Hochwassers nicht zu Hause, für die ganze Mannschaft täglich Essen zubereiten, Die Toilette durfte nicht benutzt werden, weil die Fäkalien im Erdgeschoss wieder austraten. Die Notdurft musste täglich mit Eimern über den Balkon entsorgt werden.

Als das Wasser wieder gewichen und die Keller leer gepumpt waren, habe ich beim Schlamm schippen und angesichts der Schäden in den Erdgeschosswohnungen wohl erst begriffen, welche neue Katastrophe so kurz nach dem Krieg über uns hereingebrochen war.

Ich war bei dem Ereignis noch nicht ganz sieben Jahre alt. Dennoch kommt es mir immer wieder in Erinnerung, wenn ich heute Hochwasser an Oder, Rhein, Mosel oder anderen Regionen dieser Erde in den Medien sehe. Wir müssen den Stadtvätern der damaligen Zeit dankbar sein, dass sie den Deich gebaut haben, der von der heutigen Generation leider zu oft als Selbstverständnis hingenommen wird. Es ist eine wichtige Gemeinschaftsaufgabe diesen Deich zum Wohle der Ricklinger Bevölkerung zu sichern und zu pflegen.

Aus: 50 Jahre Ricklinger Deich 1954 - 2004
Deichgrafen-Collegium Ricklingen, 01. Februar 2004

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Aktualisiert: 11.01.2005